David Bongartz kennt Mönchengladbach wie seine Westentasche. Immerhin hat er als Prokurist der WFMG ein Stückweit die Stadtentwicklung mitgeschrieben und geprägt. Nach fast 25 Jahren führt ihn sein Weg zur Zukunftsagentur Rheinisches Revier. Gemeinsam blicken wir mit ihm im Interview für die aktuelle Ausgabe der „Business in MG“ zurück auf ein Vierteljahrhundert WFMG – und schauen mit ihm nach vorne.

David Bongartz im Gespräch mit Jan Schnettler: Nach fast 25 Jahren verlässt er die WFMG und wechselt zur Zukunftsagentur Rheinisches Revier (ZRR). Dort will er die Chancen nutzen, die Transformation in eine nicht-fossile Zukunft zu schaffen und das Revier zur Pilotregion für nachhaltiges Wirtschaften zu entwickeln. Foto: Carlos Albuquerque für WFMG

 

Das Wort „Strukturwandel“ ist in aller Munde. Was bedeutet es für Sie konkret – auf unsere Region und auf unserer Zeit bezogen?

Wirtschaftlicher Strukturwandel ist nichts Neues, vielmehr ein immerwährender und fortlaufender Prozess. Während sich die ersten so genannten vier industriellen Revolutionen über insgesamt etwa 250 Jahre erstreckten, bleiben uns jetzt nur wenige Jahrzehnte, um mindestens drei weitere zu bewältigen. Und zwar die Megathemen Zero-Emission – also eine Dekarbonisierung oder Defossilisierung –, Digitalisierung und Robotisierung – in Verbindung mit Künstlicher Intelligenz – sowie Bioökonomie – in Verbindung mit Kreislaufwirtschaft. Das sind Themen, die wir auch mit unserem Projekt Textilfabrik 7.0 adressiert haben. Wenn man die Frage nach dem Strukturwandel lokal herunterbricht, kommt es darauf an, sich von anderen Standorten zu differenzieren, auch mit den endogenen Potenzialen zu punkten. Die zentrale Frage lautet: Was kann ein Standort besser und auch schneller als andere Standorte umsetzen, um seinen Teil dazu beizutragen, dass wir alle zusammen künftig besser mit den vorhandenen, endlichen Ressourcen haushalten können? In einem eher innovationsschwachen Umfeld bedarf es darüber hinaus auch zusätzlicher externer Impulse.

 

Welche Megatrends gilt es in Mönchengladbach aus Ihrer Sicht zu verfolgen – sowohl in der Breite als auch in der Spitze?

Zunächst einmal finde ich die Dinge, die bereits angestoßen wurden, gut. Junge Menschen auf ihrem Weg in die Wissenswirtschaft zu begleiten, ihnen etwa die neue Weltsprache „Codish“ näherzubringen, ist sinnvoll. Die Ansätze von MGconnect und der Gründungsfabrik und nun der Ansatz der Junior-Universität können Breiten- wie Spitzenwirkung entfalten.

Was die Spitze angeht, so muss man schauen, welche Spezialitäten und Stärken ein Standort hat, um Exzellenzen zu schaffen. Bei der Textilfabrik 7.0 haben wir das bereits sehr weit gedacht: Hier geht es darum, historisch gewachsene Kompetenzen dahingehend weiterzuentwickeln, dass sie am Ende idealerweise in einen klimaneutralen Produktionsprozess münden und damit verbunden neue Arbeitsplätze geschaffen werden.

In Sachen Luftfahrt bzw. Aviation ist es ein wenig anders gelagert: Da haben wir mit dem Flughafen bereits Infrastruktur und Unternehmen und wollen auf dieser sehr guten Basis Innovationen und Geschäftsmodelle für eine klimafreundliche bzw. langfristig klimaneutrale Luftfahrt entwickeln. Damit verbundene Themen können – im Zusammenspiel mit anderen Akteuren vor allem in NRW und im Rheinland – neue Ausbildungsansätze oder ein interkommunales Gewerbegebiet sein. Aber: Ein Stuhl mit nur zwei Beinen ist wackelig. Da gilt es noch weitere Exzellenzen zu entwickeln, die man in Wertschöpfungsketten denken kann und sollte.

 

Sie sind von Hause aus Geograf, betrachten Standortentwicklung und -marketing daher immer auch vor dem Hintergrund des Raumes, in dem sie wirken. Welche Stärken, aber auch welche Schwächen attestieren Sie dem Raum Mönchengladbach hier – und vor allem welche Entwicklung in diesem Jahrtausend?

Eine auch historische Lagegunst mit der guten Anbindung an die Rhein-Ruhr-Schiene und Benelux mit der Randstad liegt auf der Hand. Auch die großstädtische Struktur Mönchengladbachs mit ländlicher Prägung und Brückenkopffunktion ins Umland sehe ich als Stärke. Metropolen sind heute oft Stressstädte; dagegen ist eine familienfreundliche, grüne (Groß-)Stadt mit kurzen Wegen per se nicht unattraktiv. Unsere nach wie vor starke mittelständische Struktur ist ein absolutes Plus und eine Riesenstärke. Viele Unternehmer und Unternehmen engagieren sich für ihre Stadt Mönchengladbach, dies zeigt sich in Initiativen wie dem Masterplan 3.0, dem Wissenscampus und der Junior-Uni, aber auch in der Gesellschafterstruktur der WFMG. Auf der anderen Seite muss man schon attestieren, dass der Dauerstrukturwandel seit den 1960ern natürlich seine Spuren hinterlassen hat – beim Wohlstandsgefälle, bei quasi vererbter Armut. Dies kann sich aber prinzipiell auch zu einer Stärke auswachsen – etwas vereinfacht formuliert: Mönchengladbach kann Wandel. Was allerdings definitiv eine Schwäche ist, ist der öffentliche Verkehr und die Fernverkehrsanbindung an die Bahn. Das kostet Mönchengladbach und das Umland sozusagen „lokales Bruttoinlandsprodukt“. Hier ist dringender Bedarf, sonst werden bestimmte Entwicklungen und Sprünge schwer zu realisieren sein.

 

Sie haben die Geschicke der WFMG fast ein Vierteljahrhundert mitgeprägt, kennen Mönchengladbach wie kaum ein Zweiter. Warum tut die Stadt sich so schwer damit, ein positives Selbstbild zu entwickeln?

Die (nicht zu vermeidenden) Rückschläge im Strukturwandel nagen natürlich am Selbstbewusstsein bzw. der Seele einer Stadtgesellschaft, vielleicht nochmal etwas mehr, wenn eine prosperierende Region wie die Rheinschiene direkt in der Nachbarschaft liegt. 1999, als ich bei der WFMG anfing, stieg dann auch Borussia noch zum ersten Mal ab. Das war eine Art emotionaler Tiefpunkt für die ganze Stadt.

Die Innovationskultur hat sich in den letzten Jahren deutlich verbessert, ist aber nach wie vor ausbaufähig. Dies gilt auch für andere Themenfelder wie Architektur bzw. Baukultur, hier hat der Masterplan 3.0 große Arbeit geleistet. Guckt man auf die Habenseite, ist vieles entstanden: Der Nordpark etwa als neuer Stadtteil mit den Stadien und dem Business-Park ist als Konversionsstandort ein absolutes Vorzeigeprojekt.

Draußen in der Welt ist der Ruf Mönchengladbachs übrigens ein durchaus guter, wie ich bei vielen Besuchen und Präsentationsterminen – etwa mit der Landeswirtschaftsförderung NRW.Global.Business – feststellen konnte. Durch unsere Borussia ist Mönchengladbach weltweit bekannt und hat einen guten Ruf, viele kennen aber bspw. auch das JHQ und in interessierten Kreisen auch das Museum Abteiberg. Nicht zuletzt: Der gute Ruf von am Ort ansässigen Weltmarktführern und Hidden Champions strahlt positiv auf Mönchengladbach ab. So schlimm ist es um das Selbstbild also gar nicht mehr bestellt. Regionale und internationale Kontakte sind für eine positive Wirtschaftsentwicklung der Stadt essenziell, da haben wir bei der WFMG in den letzten Jahren viel aufgebaut: im Standort-Niederrhein-Verbund, auf euregionaler Ebene und in die Niederlande, aber bspw. auch nach China.

 

Was müsste geschehen, damit diese Identitätsbildung noch stärker als bisher erfolgen kann?

Aus meiner Sicht sollte man weiter Dinge und Projekte entwickeln, die nicht ubiquitär, sondern standortprägend sind und Identitäten stiften. Ein gutes Beispiel ist der Hugo-Junkers-Hangar, an dessen Entstehung ich maßgeblich mitwirken durfte. Aufbauend auf einer eigentlich simplen Idee – hier einer Halle und einem historischen Flugzeug, der Ju 52 des Vereins der Freunde historischer Luftfahrzeuge – können anspruchsvolle Projekte entstehen, die sich dann auch wertschöpfend auswirken, wenn man sie klug und konsequent auflädt. Wie in diesem Fall mit dem Pionier und unserem Ehrenbürger Hugo Junkers, quasi dem Elon Musk seiner Zeit. Ein schönes Beispiel war sicher auch die Bleichwiese, eine Idee der Freimeister für ein temporäres Zwischennutzungskonzept als Reminiszenz an den Gladbach als Namensgeber der Stadt. Mönchengladbach ist reich an solchen Potenzialen, die es noch zu heben gilt. Für eine erfolgreiche Umsetzung solcher Ideen bedarf es allerdings guter und interdisziplinärer Zusammenarbeit mit vielerlei Akteuren abseits von Silodenken.

 

Den Deutschen wird nicht unbedingt Fortschrittsoffenheit nachgesagt, gleichzeitig aber ein Hang zu Perfektionismus. Ist diese Kombination noch zeitgemäß? Oder muss langfristige, wirtschaftliche Entwicklung nicht auch mal bewusst iterativ vorgehen?

Man muss nicht alles besser wissen, aber man muss mit Hartnäckigkeit den Pfad beschreiten, dass wir ressourcenorientierter leben müssen. Man kann in dieser sehr schnellen Zeit nicht immer alles schon genau und langfristig durchzuplanen: Es gibt den schönen Spruch mit den Laternen, die einem den Weg leuchten, aber an denen man sich nicht festhalten soll. Erstmal anfangen, und dann schauen, was sich entwickelt. Innerhalb von Leitplanken flexibel sein, offen für Opportunitäten und neue – teilweise ja auch disruptive – Entwicklungen bleiben und diese mit bestehenden Infrastrukturen und vorhandenen Potenzialen koppeln. In unseren schnelllebigen Zeiten kann man ohnehin kaum weiter als fünf Jahre in die Zukunft schauen, frühere Innovationszyklen waren deutlich länger. Ein Beispiel: Wir wissen heute ziemlich genau, dass in fünf Jahren E-Flugzeuge marktfähig und etabliert sein werden; was in zehn Jahren sein wird, wird hingegen sehr unscharf und kann niemand wirklich absehen. Oder anders: Vor fünf Jahren war zwar absehbar, dass Künstliche Intelligenz aufkommen würde, aber das Tempo, mit dem ChatGPT sich durchgesetzt hat, hat dann doch auch Experten überrascht.

 

Sie bezeichnen sich als Praktiker, und Praktiker performen in der Regel über Projekte. Welche Projekte, die Sie mit angestoßen haben, haben nachhaltige Effekte ausgelöst, auf die Sie noch heute stolz sind?

Zunächst einmal ist gute Standortentwicklung und Wirtschaftsförderung immer ein gemeinschaftlicher Erfolg, ein Zusammenspiel vieler verschiedener Akteure; und dementsprechend hat Erfolg immer viele Väter und Mütter. Mein Dank gilt hier vielen Unternehmerinnen und Unternehmern, Netzwerk-Kooperationspartnern, Fördergebern, politischen Vertretern, kompetenten Kolleginnen und Kollegen in der Verwaltung und natürlich den Teams bei der WFMG, am Flughafen und in unserer Gruppe insgesamt.

Als Wirtschaftsförderung sind wir in viele Projekte und Prozesse involviert. Wenn man durch die Stadt fährt, findet man dies an vielen Stellen wieder, das ist ein gutes Gefühl. Das in den letzten Jahren wieder wachsende Cluster in der Textilwirtschaft, das sich seit Anfang der 2000er zunächst langsam und dann schneller entwickeln konnte, ist ein schöner Erfolg für den Standort. Man muss sich vor Augen halten, dass Anfang der 2000er noch die letzten großen Produktionsstätten geschlossen haben, Schlafhorst die Stadt verließ. Die Nachwuchsmesse MG ZIEHT AN war dann ein stückweit die Keimzelle für weitere Entwicklungen, bspw. das niederrheinweite Innovationsetzwerk teXellence, später folgten dann ein CSR-Kompetenzzentrum für die Branche und heute die Textilfabrik 7.0. Die in dieser Zeit entstandenen Infrastrukturen wie das Textiltechnikum, das Textilakademie und auch an der Hochschule wie das Forschungszentrum für Textil und Bekleidung (FTB), die Fraunhofer-Aktivitäten sowie die Ansiedlungen der letzten Jahre und einiges mehr sind zukunftsweisend.

Im Bereich Fachkräftenachwuchs konnte mit MGconnect eine Initiative und Stiftung etabliert werden, die jedes Jahr mehrere tausend Schüler zu ihrer beruflichen Orientierung nutzen. Anknüpfungspunkt war auch hier MG ZIEHT AN – ein Mitarbeiter im MAGS (Ministerium für Arbeit und Gesundheit des Landes NRW) sagte mir damals, dass Mönchengladbach bei den Strukturwandel-Problemen mehr für die jungen Leute tun sollte, MGconnect war dann ein Pilotprojekt für den heutigen KAOA-Ansatz in Nordrhein-Westfalen. Den Hugo-Junkers-Hangar haben wir bereits erwähnt, dieser konnte seit Eröffnung im Juni 2015 rund 400.000 Menschen Besucher begrüßen. Ein Riesenerfolg, auch wenn man Rahmenbedingungen wie Corona oder den tragischen Absturz eines Junkers-Flugzeugs in den Alpen berücksichtigt.

Als ein schönes Projekt im letzten Jahr möchte ich die Ausstellung EINFACH GRÜN des deutschen Architekturmuseums erwähnen, die wir zum 25-Jährigen der WFMG im Museumsgarten umsetzen konnten. Ohne die Unterstützung aus der heimischen Wirtschaft, die einem Crowdfunding-Ansatz nahekam, wäre das nicht möglich gewesen.

 

Sie haben zuletzt noch einmal berufsbegleitend studiert – Sustainability Leadership in Cambridge. Welche Erkenntnisse für Ihren Arbeitsalltag konnten Sie daraus ableiten?

Das, was heute landläufig als Zeitenwende bezeichnet wird, kommt ja so überraschend nicht. Welche Auswirkungen haben Elemente der Beschleunigung – beim Klimawandel, hinsichtlich einer ressourcenorientierten Betrachtungsweise? Welche Umwälzungen etwa auf den Finanzmärkten ergeben sich daraus? Und vor allem: Wie betrachte ich das systemisch im Zusammenspiel von Regulatorik, Finanzmärkten und natürlich Innovationen? Solche Fragen haben mich gereizt, als ich 2020, im ersten Corona-Jahr, dieses Onlinestudium mit einer international besetzten Gruppe absolvierte. Die maßgeblichen Erkenntnisse: Silodenken gehört der Vergangenheit an. Man muss interdisziplinär, stark vernetzt denken – inhaltlich und auch räumlich. Vernetzte Regionen sind erfolgreicher, das ist wissenschaftlich erwiesen. Daraus leiten sich einige Dinge ab: Wenn man all diese monumentalen Aufgaben gleichzeitig anpacken muss, kann das Ergebnis nicht perfekt sein, aber anpacken muss man sie trotzdem. Ich finde auch, dass eine Kultur des Scheitern-Könnens mit zur Wahrheit gehört. Bei der WFMG haben wir gemeinsam mit den Teamleitern und den Teams zum Beispiel den Anspruch entwickelt, eine Innovationsagentur für den Standort zu sein. Solange man aus denjenigen Dingen, die nicht klappen, aber lernt und Schlüsse zieht, ist alles fein.

 

Ihr Weg führt Sie nun zur Zukunftsagentur Rheinisches Revier. Was werden Sie dort künftig tun – und können Sie schon absehen, wie Sie von der anderen Seite des Tisches auf Mönchengladbach blicken werden?

Das Rheinische Revier hat ja einerseits die Energieversorgung im ganzen Land gesichert und gut von fossilen Energieträgern gelebt. Analog zum Ruhrgebiet ist der Wohlstand des ganzen Landes auch durch den Braunkohleabbau bei uns im Revier mitgeprägt worden. Die riesigen Löcher in der Landschaft mit all ihren Folgenwirkungen zeigen natürlich auch die Wunden dieser Entwicklung. Dass die Bagger an der Kante einer Großstadt wie Mönchengladbach knabbern, dürfte europaweit auch einmalig sein. Der quasi „Live-Strukturwandel“ des Rheinischen Reviers hat viele Facetten und Komplexitäten. Die Kombination aus der anstehenden Transformation in eine nicht-fossile Zukunft und dem Anspruch des Reviers, sich zu einer Pilotregion für nachhaltiges Wirtschaften mit europaweiter Strahlkraft zu entwickeln, ist reizvoll. Mönchengladbach als Großstadt hat die Chance, hier ein urbanes Reallabor zu werden.