Premierengast 2021 im neuen WFMG-Podcast ist Professor Ulrich Weinberg, Leiter der School of Design Thinking des Potsdamer Hasso-Plattner-Instituts. Im Gespräch mit Jan Schnettler und Toni Balg verrät er, welche Potenziale er in Mönchengladbach und der Region sieht, um sie als Pilot-Region für nachhaltige Wirtschaft mit europäischer Strahlkraft zu entwickeln, und sagt, warum es dafür anstelle von Einzelkämpfern agile Teams braucht. Doch hören Sie selbst!

(Bearbeitung Podcast: Axel Tillmanns)

Nachfolgend können Sie das gesamte Interview, das wir für die „Business in MG“ geführt haben, auch nachlesen (Transkription: Tim Jendritza, Bearbeitung: Silvana Brangenberg):

(C) Foto: HPI School of Design Thinking

„Die Gruppe ist der Innovator“

An der School of Design Thinking in Potsdam gibt es derzeit 120 Studierende aus 70 Disziplinen, aus 60 Hochschulen, aus 20 Nationen, die in kleinen Teams an der Lösung komplexer Fragestellungen arbeiten und dabei lernen, vernetzt zu denken und zu arbeiten. Ihr Leiter ist Professor Ulrich Weinberg. Im Interview erklärt er, warum es agile Teams braucht, um eine Region zu stärken, und keine Einzelkämpfer. 

Was ist überhaupt Design Thinking? Und warum braucht es dafür sogar eine eigene Bildungseinrichtung?

Ulrich Weinberg: Design Thinking, wie der Name sagt, hat etwas mit Design zu tun, aber es ist nicht so vordergründig. Der Design-Thinking-Begriff geht ein bisschen weiter. Wir nutzen die Denk- und Arbeitsweise von Designern. Wir setzen nicht ausschließlich auf den einzelnen Experten zu einem Spezialthema, sondern darauf, dass komplexe Fragestellungen auch komplex gelöst werden müssen – und das mit unterschiedlichen Expertisen.

Die Pandemie ist ein schönes Beispiel für so eine komplexe Fragestellung. Da tue ich mir keinen Gefallen, wenn ich mich nur auf die einzelne Expertise eines Virologen verlasse oder nur darauf, dass das aus einer medizinischen Sichtweise behandelt wird. Das Thema ist so komplex und so vielgestaltig. Und es zeigt, dass wir noch nicht in der Lage sind, auch in größeren Entscheidungsstrukturen wirklich komplex eine Lösung anzugehen, sondern immer noch aus einer Silo-Perspektive denken.

Wie verankert ist dieses Denken mittlerweile in Deutschland? Im Vergleich vielleicht auch zu den USA?

Ulrich Weinberg: Große und mittelständische Unternehmen in Deutschland haben sich bereits in den vergangenen Jahren auf den Weg gemacht, agiler zu werden und sich in eine Welt begeben, die hochgradig vernetzt ist. Damit meine ich, dass sie ihre Mitarbeiter zunehmend mit neuen digitalen Technologien ausgestattet haben. Doch allein mit neuer Hard- und Software ist es nicht getan. Es muss auch ein Denkwandel stattfinden. Wir stehen vor einem großen Aufbruch. Einem Muster-Wandel. Weg von analogen Denk- und Handlungstraditionen, hin in eine digitale Denk- und Handlungswelt, in der wir uns gerade alle befinden.

Die Unternehmen haben relativ schnell begriffen, dass es wichtig ist, sich auch auf Nutzer einzustellen. Nochmal anders, als sie das vorher schon gemacht haben. Also nicht nur Dinge zu produzieren, Produkte und Services zu liefern, sondern zu realisieren: Da verändert sich etwas.

Durch die Digitalisierung hat sich das Leben eines jeden Einzelnen beschleunigt. Und damit verändern sich auch die Bedürfnislagen von Menschen. Die Wünsche nach bestimmten Produkten oder Services verändern sich so schnell, dass man immer stärker ebendiesen Blick haben und sich fragen muss: „Was tut sich da gerade? Was verändert sich?“ Man kann nicht mehr langfristige Produktlinien definieren, die zehn Jahre für die Entwicklung brauchen, wie das früher üblich war. Diese Art von Geschwindigkeit oder Geschmeidigkeit haben viele Unternehmen jetzt mit Design Thinking oder anderen agilen Methoden aufgegriffen.

Ich kann jedem Design Thinking empfehlen. Wir haben mit mehr als der Hälfte der deutschen DAX-30-Unternehmen mittlerweile Trainings-Sessions gemacht und Projekte unternommen. Da ist eine große Bereitschaft, mit digitalen Denkmustern unterwegs zu sein. Aber es ist ein langer Prozess.

Welche Potenziale sehen Sie in Mönchengladbach und der Region, um hier eine Pilot-Region für nachhaltige Wirtschaft mit europäischer Strahlkraft zu entwickeln?

Ulrich Weinberg: Ich sehe da jede Menge Möglichkeiten. Die Menschen haben über Jahre und Jahrzehnte eine Expertise in Bereichen aufgebaut, die zum Teil über kurz oder lang nicht mehr von Interesse sind. Das heißt, ich habe einen sozialen Druck. Ich muss zum einen dafür sorgen, dass Menschen neue Dinge lernen, weil sie mit der Region fest verbunden sind, sich super wohl fühlen und hier eine Familie haben. Zum anderen ist es eine Region mit vielen größeren Städten und vielen Kultur-Potenzialen.

Die gesellschaftliche Entschiedenheit ist da, dass da ein Wandel passieren muss – auch in der ganzen Energiewelt. Das gilt es jetzt aufzugreifen und die schlummernden Potenziale zu wecken. Nun können Dinge in Gang gesetzt werden, die vielleicht auf den tradierten Wegen nicht zum Tragen gekommen wären – auch mit dem zusätzlichen Druck der Digitalisierung durch die Pandemie. Prozesse in Gang zu setzen, welche die Menschen mitnehmen, wäre meine Botschaft in die Region.

Welche Schwerpunkte sollten regionale Wirtschaftsförderungen verfolgen, um diese Potenziale bestmöglich zu aktivieren?

Ulrich Weinberg: Es ist wichtig, Potenziale sichtbar zu machen und im Austausch zu sein. Mit Organisationen, mit Initiativen und auch mit Einzelpersonen, die man als Treiber von positiver Veränderung erkennt, um sie zu einem aktiven Teil eines Wandlungsprozesses zu machen. Ein weiteres, ganz wichtiges Momentum ist es, Unternehmergeist zu fördern. Unser Ansatz an der School of Design Thinking führt bei den Studierenden dazu, den Unternehmergeist freizusetzen. Wir führen Menschen unterschiedlicher Disziplinen zusammen und schaffen Räume dafür.

Auf Mönchengladbach und die Region bezogen spreche ich von Orten in der Region, an denen man sich findet, um Probleme zu lösen und gemeinsam in die Entwicklung von neuen Ideen, Produkten und Services zu gehen. Eine Art Maker Lab und Coworking Space. Orte, an denen sich Jung und Alt treffen können, an denen man sich austauschen kann und sich als junger Unternehmer oder potenzieller Unternehmer kundig machen kann. Orte, an denen Leute zusammenkommen, die viele Jahre an Erfahrung haben und Lust haben, das weiterzugeben und diese Art von Austausch zu betreiben. So entstehen viele kleine unternehmerische Aktivitäten, die insgesamt die Region beflügeln. Man muss in kollaborative Denk- und Arbeitsprozesse reinkommen. Es ist ein Team-orientierter, kollaborativer Innovationsprozess. Die Gruppe ist der Innovator.

Welche Organisationsstrukturen braucht es, um diesen Prozess des Strukturwandels zu begleiten? Wie müssten wir als moderne Wirtschaftsförderung, als die wir uns bereits wahrnehmen, vielleicht auch noch weiter wandeln, um auf die künftigen Entwicklungen vorbereitet zu sein?

Ulrich Weinberg: Mein Plädoyer geht immer in die Richtung, sich die eigenen Strukturen anzuschauen. Wie stark sind die noch in Mustern der analogen Zeit verhaftet? Welche Art von hierarchischen Modellen habe ich in meiner eigenen Organisation, die eigentlich mit einer vernetzten Welt, in der wir heute leben, nicht mehr viel zu tun haben? Fragen Sie sich auch, ob Sie ein Vorbild sind. Bin ich mit dem, was ich da tue und wie ich mich aufgestellt habe, ein Vorbild für andere Organisationen?

Zum Thema Organisationsstrukturen: Ich setze auf ein Ökosystem aus vernetzten kleinen Einheiten. Und auf eine möglichst flache Hierarchie. So wie ich sie in meinem Buch „Network Thinking“ beschrieben habe. Wir müssen weg vom siloorientierten Abteilungsdenken, weg von dieser Brockhaus-Struktur. Es braucht einen Denkwandel. In diesen Prozessen stehen wir gerade, und ich glaube, da kann eine Wirtschaftsförderung, wenn sie gut ist, auch von der eigenen Organisation her Vorbild und Vorreiter sein. Noch stärker ist das in einem Gründerzentrum möglich, in dem man offene Strukturen walten lässt und auch neue Dinge ausprobieren lässt. Das ist bei Ihnen ja gerade in der Entwicklung. Das finde ich richtig.

Dann sollte man auch darüber nachdenken, verschiedene Orte in ganz Deutschland zu finden. Damit man einen schnelleren Zugang bekommt und keine weite Anreise hat. Dadurch entwickelt sich eine Art sportive Konkurrenz. In der School of Design Thinking gibt es keine individuelle Konkurrenz. Das ist für mich ein Thema des letzten Jahrhunderts und keines, mit dem wir uns heute noch beschäftigen müssen. Wir müssen uns mit Kooperationen beschäftigen.

Bei uns in Potsdam gibt es eine sportive Konkurrenz zwischen den Teams, die sich gegenseitig beim Arbeiten beobachten. Wir haben ungefähr 12 bis 16 unterschiedliche Projekte pro Semester, und alle Projekte werden von einem Team von fünf bis sechs Leuten betrieben. Wie eine Art Startup. Dadurch haben wir einen offenen Innovationsprozess, den ich sehr empfehlen kann. Sie müssen sich das bei uns wie in einem sportlichen Wettbewerb vorstellen. Die Teams sehen, wie weit die anderen sind und fühlen sich dadurch angespornt in ihrem Tun. Das ist hochgradig befruchtend.

Wir haben die Global Design Thinking Alliance vor ein paar Jahren gestartet und sehen jetzt, wie weltweit andere Institute arbeiten. Das beflügelt uns auch wieder. Wir beobachten zum Beispiel in Südafrika, wo Kolleginnen und Kollegen Lernkonzepte auf WhatsApp-Basis aufgesetzt haben, weil dort schnelle Leitungen im Netz nicht verfügbar waren. Aber die Leute laufen dort mit Mobiltelefonen rum. Das ist für uns wieder ein Trigger: sich anzuschauen, was die anderen machen. Auf welche Ideen kommen sie? Und das als offenen Innovationsprozess laufen zu lassen, ist mit Sicherheit sehr gut.

Ist ein Standort oder ein Unternehmen überhaupt potenziell zukunftsfähig, wenn es auf all diese Dinge verzichtet und in den alten Denkmustern stecken bleibt?

Ulrich Weinberg: In meinen Augen ganz klar nicht. Wir leben in Zeiten der zunehmenden Globalisierung und Digitalisierung. Es gibt zwei große Themen, die man nicht aus dem Auge verlieren darf. Zum einen den Klimawandel und zum anderen die Digitalisierung. Beides darf ich als Unternehmen nicht aus dem Auge verlieren. Wenn ich das tue, ist eigentlich egal, wie groß ich bin und wie erfahren und wie lange das Unternehmen schon auf dem Markt ist. Man muss das ganze Unternehmen mitnehmen. Das bedeutet, dass nicht nur die Unternehmensspitze oder eine Abteilung der Vorreiter ist, sondern es muss begriffen werden, dass die Transformation, in der wir uns gerade befinden, in erster Linie eine kulturelle ist.

Ich zitiere gerne Volkmar Denner, CEO von Bosch. Bosch begleiten wir seit vielen Jahren auch in einem Transformationsprozess mit vielen Trainings und Projekten. Volkmar Denner ist Chef von ungefähr 400.000 Menschen, die vor Jahren einen massiven Transformationsprozess in Gang gesetzt haben. Er sagte in einem FAZ-Interview: „Digitale Transformation ist für Bosch in erster Linie fundamentaler Kulturwandel und in zweiter Linie Einführung von neuen Technologien.“ Das kann ich nur unterschreiben. Volkmar Denner sagte gleichzeitig auch, er sehe, dass die meisten Unternehmen und Organisationen es genau andersherum machen. Sie führen erst mal neue Technik ein und dann begreifen sie, dass es einen Kulturwandel gibt.

Es ist ganz wichtig, dass das auch politisch begriffen wird. Die Transformation, in der wir uns befinden, ist ein massiver Kulturwandel, ein massiver Denkwandel. Wir leben in Zeiten, in denen wir noch so tun, als gäbe es keine Digitaltechnik. Wir rennen zwar alle damit rum, aber die Strukturen sind noch nicht weitergewachsen und nicht weiterentwickelt. Das trifft die Bildungslandschaft genauso. Ich könnte mir vorstellen, dass eine Region wie die Ihre eine Vorreiterrolle einnehmen kann. Als Region selbst eine agile Region werden und zeigen, dass nicht nur Unternehmen agil denken müssen, sondern auch die politische und kulturelle Landschaft, die ganze sozial Umgebung.

Sie brauchen zum Beispiel nur nach Singapur oder Taiwan schauen. Diese Länder haben das schon sehr früh begriffen. Man hatte anfangs vielleicht auch dort ein bisschen Angst vor der Veränderung. Dass zu viel Technik im Spiel ist. Aber wenn man das unter dem kulturellen Aspekt von vornherein angeht, kann das sehr fruchtbar sein für alle, die dort leben.

Welche Eigenschaften bzw. welche Art von Köpfen zeichnet denn den innovativen Standort oder die innovative Region aus Ihrer Sicht aus?

Ulrich Weinberg: Wir haben bei uns festgestellt bzw. sehen das jedes Semester bei unseren Teams: Unsere Studierenden bewerben sich nicht als die großen Innovatoren, sondern sie bewerben sich bei uns, um in diesen kollaborativen Denk- und Arbeitsprozess reinzukommen. Es muss gar nicht so sehr dieser einzelne Innovator sein. Es ist dieser teamorientierte, kollaborative Innovationsprozess. Wenn der im Gang ist, entstehen Dinge, die man als Einzelner nur superschwierig oder in seltenen Ausnahmefällen hinbekommt. Das Team ist der Innovator. Wenn man das zum Prinzip macht, braucht man gar nicht mehr die supercoolen Köpfe. Ich brauche nicht den Elon Musk. Wir entwickeln innovative Modelle in einem Kontext, in einem innovativen Ökosystem, aus dem natürlich auch der tolle Unternehmer rauswachen kann.

Was ich viel spannender finde ist, dass da 25 coole Unternehmen entstehen können, oder? Das können soziale Einrichtungen, Bildungsinitiativen und alles Mögliche sein. Das finde ich letzten Endes viel spannender. Ich würde nicht darauf warten, dass es den coolen, innovativen Kopf gibt, der in der Tat natürlich existiert, aber der leider eben nicht so häufig vorkommt unter uns Menschen. Sondern ich würde auf den Prozess setzen, und da ist meine Erfahrung, dass das wunderbar funktioniert.

Lassen sich konkrete Innovationen planen?

Ulrich Weinberg: Unsere Devise an der School of Design Thinking ist nicht, möglichst viele Innovationen zu schaffen. Wir schauen uns an, welche Fragestellungen gibt es und wo kann ich ansetzen? Wo gibt’s ein Problem? Ich gebe Ihnen ein Beispiel: die Kindergarten-Platzvergabe in Potsdam. Die Stadt ist auf uns zugekommen, weil das Thema „Kita-Platzvergabe“ im Blindflug passierte. Alle waren unzufrieden: die Stadt, die Eltern, die Kindergärten. Es funktionierte nicht. Mit diesem Problem hat sich eine Studentengruppe ein Semester lang beschäftigt. Heraus kam eine Software-basierte Lösung mit vorhandenen Technologien. Aber es war keiner auf die Idee gekommen, sie entsprechend einzusetzen und zusammenzuführen, so dass alle zufrieden sind.

Von dieser Art Probleme gibt es überall jede Menge. Diese sich anzuschauen, und da Innovationsprozesse, Kreationen und Lösungsprozesse in Gang zu setzen, das ist eine Herausforderung. Wenn dabei eine Reihe von coolen Dingen entsteht, kann ich mir sehr gut für Ihre Region vorstellen, ein Motor zu werden. Genauso wie für größere Aktivitäten ein Attraktor für größere Unternehmen zu sein, die dann sagen: „Hey, da ist ja eine tolle Innovationskraft in der Region, da müssen wir hin.“

Braucht es in jedem Unternehmen einen Innovationsmanager? Ist das schon mal ein guter erster Fuß in der Tür, um das Denken in der Gesamtorganisation kurz oder vielleicht auch mittelfristig umzustellen?

Ulrich Weinberg: Ich weiß nicht, ob man den Menschen Innovationsmanager nennen sollte. Es braucht vielleicht jemanden, der den Kulturwandel antreibt und betreibt. Letzten Endes ist das immer die Aufgabe der Geschäftsleitung, diesen Prozess bewusst anzugehen und das Ganze nicht einer Einzelperson oder einer Abteilung zu überlassen. Man muss heute als Führungskraft begreifen, dass wir uns in Zeiten befinden, in denen sich massiv Dinge verändern und ein Denkwandel eintreten muss. Letzteren muss ich steuern. Dem muss ich mich als Top-Führungskraft stellen. Das ist eine Herausforderung – vor allem für viele ältere Führungskräfte. Sie müssen als Vorbilder agieren und ihre eigene Kultur verändern. Denn es geht letzten Endes auch um eine Veränderung von Machtstrukturen und hierarchischen Strukturen.

Wir haben ein viel zu starkes Top-Down und Command-in-Control-Verhalten in den Führungsetagen. Das führt dazu, dass Potenziale, die im Unternehmen schlummern, nicht geweckt werden, weil strikt nach Order Dinge abgearbeitet werden, wie sie im Vertrag stehen.

Wir haben das in den vergangenen Jahren durch Begleitung vieler Unternehmen gesehen und unter anderem auch bei Bosch erlebt. Was passiert, wenn ich diese Potenziale zum Spielen bringe und wie gut das dem Unternehmen tut. Dass nebenbei noch ein paar Hierarchieebenen überflüssig werden, ist eigentlich ein positiver Nebeneffekt. Das heißt nicht, dass die Menschen dann draußen sind, sondern sie müssen neue Rollen definieren oder sich selbst definieren.

Welche Skills sollten die Mitarbeiter in Zukunft mit in das Unternehmen bringen?

Ulrich Weinberg: Das sind die berühmten Top-Skills, die leider in den Bildungseinrichtungen zurzeit nicht vermittelt werden. Skills wie kritisches, vernetztes Denken, Kooperationsfähigkeit, Empathie usw. Die Bildungslandschaft ist noch nicht so weit, wie es viele Industrieunternehmen schon sind. Dort ist noch nicht angekommen, dass ein massiver Denkwandel eintreten muss. Wir haben nach wie vor eine Bildungslandschaft, die kompetitives Verhalten honoriert und Netzwerker ignoriert. Und das nicht über zwei Monate, sondern über zehn Jahre. Wir haben am Ende junge Menschen, die aus Bildungsprozessen in eine agile, Netzwerkarbeit-basierte Welt kommen, aber dafür gar nicht geeignet sind.

Ich hatte kürzlich noch Gespräche mit mehreren Unternehmen mit 1000 Mitarbeitern, die mir das genauso reporten. Die sagen, wir brauchen Team-Player. Die Leute, die aus den Hochschulen bzw. Bildungseinrichtungen kommen, sind total darauf trainiert, individuell kompetitive Egomanen zu sein. Dafür können sie nichts, denn der Bildungsapparat macht sie dazu.

Wir helfen unseren Studenten in Potsdam in zwei Semestern aus diesen Denkmustern heraus. Das erste Semester ist quasi Deep Learning. Wir holen Menschen raus aus diesen kompetitiven Haltungen. Es dauert ein paar Wochen, bis sie begriffen haben, dass es bei uns nicht um Individual Competition geht. Nach und nach tauen die Studenten auf, und ihre schlummernden Potenziale kommen zum Vorschein.

Und die Bildungslandschaft muss sich dahin verändern. Das ist ganz klar mein Plädoyer an alle Bildungsverantwortlichen. Es muss ein fundamentaler Wandel in die Prozesse, in die Köpfe und auch in die ganzen Strukturen rein. Da kann Ihre Region eine Vorreiterrolle einnehmen. Wenn da Menschen trainiert werden, sich viel stärker vernetzt zu verhalten und kooperativ unterwegs zu sein und die entsprechenden Lösungskompetenzen für sich selbst zu entwickeln, dann ist eine ganz andere Art von Gefühl der Selbstwirksamkeit da, als ich heute habe.

Andere europäische Länder haben eine Bildungspflicht, wir haben eine Schulpflicht. Wir müssen uns in Deutschland von der Schulpflicht verabschieden. Wir müssen eine Bildungspflicht einführen, wenn wir irgendetwas verankern wollen. Gerade in Zeiten der Pandemie muss man sich als Lehreinrichtung überlegen, wie Bildung trotzdem hinzukriegen ist. So wie wir das auch in der School of Design Thinking gemacht haben. Wir hätten auch sagen können, wir machen jetzt ein Null-Semester.

Aber das haben wir nicht getan, sondern uns sofort überlegt, wie wir diese zwei Semester komplett digital abgebildet bekommen. Und siehe da: Die Mittel und Tools waren da und es war noch nicht einmal teuer. Noch nicht mal so, dass man sagen muss, wir werden wahnsinnig viel Geld investieren müssen. Gar nicht. Und es hat funktioniert. Wir haben in diesen Zeiten den Anspruch, den Menschen genau dasselbe Erlebnis zu geben, wie sie es sonst erleben könnten, wenn keine Pandemie da wäre. Es hat funktioniert.

Wie glauben Sie, wird die Welt nach der Corona-Pandemie aussehen, wenn sie uns denn jemals in Gänze verlassen sollte?

Ulrich Weinberg: Naja, die Welt nach der Corona-Pandemie ist die Welt vor einer nächsten größeren Herausforderung. Und ich glaube, wenn wir die richtigen Schlüsse aus dem ziehen, was wir jetzt erlebt haben, dann ist eines für mich ganz klar: Auch die Politik muss sich diesen neuen Herausforderungen stellen. Es muss ein komplexer Denkkontext entstehen, um komplexe Probleme auch lösbar werden zu lassen. Das heißt, auch die politischen Institutionen müssen sich mehr oder weniger agilisieren, und ich glaube, bei vielen Ministerien sind da entsprechende Prozesse im Gange und waren auch schon vor der Corona-Krise im Gange. Diese sind mit Sicherheit nochmal beschleunigt worden durch das, was wir in den letzten Monaten erlebt haben.

Was ich fürchte, ist, dass zu viele Menschen nach dem „Gestern“ rufen und sagen: Mensch, das war doch so toll, wie das früher war. Und ja, wir sitzen jetzt die ganze Zeit vor digitalen Geräten und sind da in Videoplattformen unterwegs. Und ja, das hat irgendwie funktioniert aber das wollen wir nicht mehr. Wir wollen jetzt wieder zurück zum puren Analogen. Mein Wunsch wäre, dass das viele Positive, was man in den letzten Monaten erleben konnte, auch weitergeführt wird. Und das versuchen wir in der School of Design Thinking, indem wir sagen, wir werden nicht mehr zurückgehen zu dem pur Physischen, sondern wir entwickeln gerade einen Hybrid-Modus für die Zukunft.

Das heißt, wir wollen natürlich vor Ort sein. Wir wollen es auch den Studierenden ermöglichen, vor Ort miteinander zu arbeiten. Aber es soll gleichzeitig möglich sein, dass ein Studierender aus Nairobi, der es sich nicht leisten kann, für zwei Semester nach Potsdam zu ziehen, mitmachen und genauso auf Augenhöhe interagieren und in die Innovationsprozesse mit eingebunden werden kann.

Wir entwickeln dafür neue räumliche Konstellationen, bauen zusammen mit Möbelherstellern Hybrid-Möbel, die das möglich machen – kombiniert mit Technik. Das wäre mein Wunsch, dass wir uns viel stärker in eine eher hybride Welt bewegen und die beiden positiven Dinge sozusagen zusammenführen und miteinander zum Klingen bringen. Das wird in Zukunft vieles leichter machen und auch mit dem Blick auf die Umweltproblematik. Ich bin da ganz zuversichtlich.

Wunderbar, ein sehr schönes, sehr optimistisches Schlusswort, Herr Weinberg. Vielen Dank für das sehr interessante und informative Gespräch. Wir freuen uns aufs nächste Mal. Vielen Dank.

Ulrich Weinberg: Vielen Dank. Ich freue mich auf die weitere Zusammenarbeit mit Ihnen und der Region.

Da wird hoffentlich noch einiges kommen.


Kurzvita | Prof. Ulrich Weinberg (62)

Schon Ende der 1980er Jahre waren es kreative digitale Innovationen, mit denen sich Ulrich Weinberg befasste. Als einer der deutschen Pioniere im Bereich Computeranimation und Virtual Reality gründete er 1993 sein erstes Unternehmen und wurde 1994 Professor für Computeranimation an der Potsdamer Filmhochschule. Vier Jahre Amtszeit als Vizepräsident für Technologie und internationale Beziehungen waren gerade vorbei als 2007 die Anfrage aus dem HPI kam, die School of Design Thinking aufzubauen, die er seither leitet.

Für ihn ist die HPI DSchool ein Prototyp für die Bildungslandschaft des 21. Jahrhunderts. Seit 2004 ist er Gastprofessor an der Communication University of China in Peking und das Wirtschaftsmagazin Handelsblatt zählt ihn zu den 100 Innovatoren in Deutschland. Beim 10-jährigen Jubiläum der HPI D-School war er Mitgründer der GDTA Global Design Thinking Alliance, in der mittlerweile Bildungseinrichtungen aus fünf Kontinenten zusammenarbeiten. Die größte Herausforderung sieht er darin, die Kernelemente des Design Thinking auch in den traditionellen Bildungssystemen wirksam werden zu lassen um auch Schüler besser auf die Herausforderungen der digital vernetzten Welt vorzubereiten.

Das ist ein Hauptanliegen der von ihm mitgegründeten WeQ Foundation. Immer wieder beeindruckt ihn, wie schnell ein Design Thinking-Team sich tief in ein vorher unbekanntes Thema einarbeiten kann und dann Experten mit neuen Lösungen überrascht. In seinem Buch „Network Thinking – Was kommt nach dem Brockhaus-Denken“ fordert er ein radikales Umdenken in Bildung und Wirtschaft.

Weitere Informationen: https://hpi.de/school-of-design-thinking/hpi-d-school.html