Transformation, gesellschaftliche Herausforderungen, wirtschaftliche Unsicherheit. So war es vor 1924, und so ist es heute. In Umbruchzeiten gründen sich besonders viele Unternehmen. Vor 100 Jahren entdeckten Pioniere in der Zeitenwende neue Geschäftsfelder. Es war eine Zeit der Unternehmensgründungen. Manches erinnert aktuell an die Zeiten von damals. Und tatsächlich gibt es wieder eine große Welle an Start-ups.

Oberbürgermeister Felix Heinrichs hat in diesen Monaten einen noch volleren Kalender als sonst. Denn er ist oft Ehrengast bei Unternehmen, die ihr 100-jähriges Bestehen feiern. Darunter sind Firmen, die wie beispielsweise TAS Sicherheits- und Kommunikationstechnik die Aufbruchstimmung in den 20ern des vergangenen Jahrhunderts nutzten und ein völlig neues Geschäftsfeld besetzten – um sich später neu aufzustellen und immer wieder neue Felder zu erschließen. Darunter sind aber auch Wohlfahrtsverbände wie die AWO und die Diakonie, die in Mönchengladbach ebenfalls 1924 gegründet wurden. Kein Wunder, denn die vermeintlich Goldenen Zwanziger begannen auch für viele Mönchengladbacher nicht golden. Die Fließbandarbeit machte viele Arbeitskräfte überflüssig und sorgte für hohe Arbeitslosigkeit. Dazu kam eine immense Inflation in politisch unsicheren Zeiten. Der Weltkrieg hatte für Deutschland auch wirtschaftlich dramatische Folgen gehabt. Erst ab 1924 ging es wieder spürbar bergauf. Die junge Demokratie war alles andere als gefestigt. Allein zwischen 1923 und 1930 gab es sieben demokratische Wahlen für den Reichstag und zehn Regierungen. Mönchengladbach erlebte eine besonders unruhige Zeit. Bürgermeister Franz Gielen konstatierte: „Wohl kaum je zuvor hat die Stadt in ihrer Entwicklung eine so schwere Zeit durchgemacht wie in jenen fünf Jahren“, schrieb er im Verwaltungsbericht über die Jahre 1921 bis 1926. Er kam 1924 gerade quasi aus dem Exil zurück. Im August 1923 war es zum Eklat gekommen: Eine Separatisten-Bewegung, die die Unabhängigkeit des Rheinlands forderte, verlangte, in der Kaiser-Friedrich-Halle eine Großveranstaltung abhalten zu dürfen. Gielen verweigerte dies, die Genehmigung erteilte dann der belgische Kreisdelegierte. In der Nacht auf den 26. August stießen Teilnehmer einer Gegendemonstration mit Separatisten zusammen; laut Schilderung des städtischen Statistikamtes kam es zu Schüssen in der Stadt. Gielen und noch drei weitere Spitzenbeamte wurden aus dem Rheinland ausgewiesen. Er und seine Familie schlugen sich im Münsterland durch.

Doch neben Unruhe und Herausforderung gab es in dieser Zeit auch in Mönchengladbach wie in vielen Städten Aufbruch und Mut für Neues. So war zum Beispiel die Schauspielhaus Rheydt GmbH schon 1922 gegründet worden, auch der Bau des Volksbads begann. Eine Reihe von Vereinen gründete sich, die es auch noch heute gibt, zum Beispiel der MSC 1924 Odenkirchen und der Verein der Briefmarkenfreunde. Und auch die Wirtschaft bekam neuen Schwung. Mönchengladbach, seit Langem ein über die Region hinaus bekanntes Zentrum der Textilindustrie, erlebte eine schrittweise Wiederbelebung der Produktion. Trotz der Inflation und wirtschaftlichen Instabilität begann die Textilindustrie wieder zu florieren, da sich die Unternehmen an die neuen wirtschaftlichen Bedingungen anpassten und von der Stabilisierung der deutschen Mark im Jahr 1924 profitierten.

Und dann gab es ganz neue Unternehmen, die mitten in der Zeitenwende neue Geschäftsfelder für sich entdeckten. So wie der junge Fernmeldeingenieur Arthur Schwabe, der mit gerade einmal 28 Jahren sein Unternehmen gründete: auf der Mühlenstraße in Rheydt unter dem Namen Telefonbau Arthur Schwabe, kurz TAS. Schwabe erkannte die Chance der neuen technischen Entwicklungen für die Kommunikation. Telefone „made by TAS“ waren bekannt und geschätzt, selbst Konrad Adenauer telefonierte später mit den Mächtigen der Welt über eine Telefonanlage des Unternehmens. Dieses Geschäftsmodell trug bis in die Wirtschaftswunderjahre. Viele Aufträge der Deutschen Bundespost sorgten für eine Betriebserweiterung mit einer neuen Fertigungshalle, die 1963 in der Friedrich-Ebert-Straße in Rheydt fertiggestellt wurde.

Doch dauerhaft am Markt bleibt nur, wer die Zeichen der Zeit rechtzeitig deutet. Die Tüftler der TAS erkannten schnell, dass Telefonleitungen auch für die Übertragung von Alarmen genutzt werden können. So begann 1967 der Einstieg in die Sicherheitstechnik mit einem patentierten System, das für Aufsehen sorgte. Bei Alarmübertragungsgeräten ist die TAS heute noch Marktführer in Europa und setzt den technischen Standard. Von Rheydt zog das Unternehmen 1978 nach Giesenkirchen, bis heute Hauptsitz der TAS. Hier ist eine echte Know-how- Zentrale für Sicherheits- und Kommunikationstechnik entstanden mit Forschung und Entwicklung, Fertigung und der hauseigenen „Arthur-Schwabe-Akademie“ für Weiterbildung und Wissensaustausch. In Mönchengladbach und an den acht weiteren bundesweiten Standorten arbeiten etwas mehr als 200 Mitarbeitende aus 15 Nationen für Unternehmen mit höchsten Anforderungen an die Sicherheit. Zu den Kunden zählen heute zum Beispiel Großbanken, Tankstellennetze, Energieversorger und die Industrie. Denn neben der Produktentwicklung gehört die systematische Absicherung von Unternehmen und ihren Filialen nach einem einheitlichen Qualitätsstandard zum Kerngeschäft. Weitere Unternehmen, die 1924 gegründet wurden und die es heute noch gibt, sind das Autohaus Fleischhauer und die TYPOLAC Flören GmbH, die 1924 von Wilhelm Flören in Rheydt gegründet wurde und Drucksysteme mit hoher Farbgenauigkeit entwickelt hat. Das Unternehmen ist bis heute in Familienhand.

Eine Erfolgsgeschichte, die vor 100 Jahren begann und viel Potenzial für die Zukunft hat, ist auch die AWO. Die Initiative für die Gründung der Arbeiterwohlfahrt in Berlin ging von der damaligen Frauenleiterin der SPD und Reichstagsabgeordneten Marie Juchacz aus. Ziel und Arbeitsschwerpunkt des Verbandes war die Demokratisierung des Wohlfahrtswesens mit der Absicht, die staatliche Verwaltung zu beeinflussen und ehrenamtliche Kräfte für die Mitarbeit im Wohlfahrtswesen zu schulen. Eigene Einrichtungen, wie Kindertagesstätten, wurden als Modelleinrichtungen betrieben. Auch die Arbeit des Wohlfahrtverbandes hat sich im Laufe der Jahrzehnte stark gewandelt. Mit dem innovativen L64 mitten in Rheydt, flachen Hierarchien und einem demokratischen Arbeitsmodell ist gerade die Mönchengladbacher AWO zu einem Role Model in Sachen zeitgemäßer Wohlfahrtsverband geworden. Dies attestierte die Vorständin des AWO-Bundesverbandes, Claudia Mandrysch, gerade erst zur 100-Jahr-Feier des Mönchengladacher Verbandes, zu dem auch Bundesarbeitsminister Hubertus Heil als Gast kam. Und noch ein weiterer Wohlfahrtsverband gründete sich 1924. Als das Gladbacher Presbyterium 1924 auf Antrag von Pfarrer Hermann Leithäuser den Beschluss zur Gründung eines Evangelischen Jugend- und Wohlfahrtsamtes fasste, war dies die Geburtsstunde des heutigen Diakonischen Werks in Mönchengladbach. Damals wurden von der Diakonie zum Beispiel das Krankenhaus Bethesda, das Altenheim, das Waisenhaus und Kinderheim in Neuwerk, Kindergärten und das Haus Zoar betrieben.